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11. September 2009

Toxikologe hält die heutige Praxis der Giftprüfungen für überholungsbedürftig und zeigt Strategien für eine Toxikologie des 21. Jahrhunderts auf

Professor Thomas Hartung ist Professor für Pharmakologie und Toxikologie an der Universität Konstanz, Professor und Lehrstuhlinhaber an der John Hopkins Universität Baltimore (USA) und Direktor des John Hopkins Zentrums für Alternativmethoden zu Tierversuchen. Er kritisiert in dem renommierten Wissenschaftsmagazin Nature die heute üblichen Giftprüfungen (Toxikologie) und befasst sich mit der Frage, ob die gegenwärtige Praxis, chemische Substanzen mit Tierexperimenten auf Giftwirkung zu prüfen, für REACH, dem bisher größten EU-Sicherheitsprogramm, ausreicht. Im Rahmen der EU-Richtlinie REACH sollen 30.000 Substanzen, die vor 1981 auf den Markt gekommen sind, auf ihre Gefährlichkeit getestet werden. Dabei greift die EU größtenteils auf althergebrachte Tierversuche zurück.

Der Autor des Artikels weist auf schon lange bekannte Unzulänglichkeiten der angewendeten Tierversuche hin: Menschen sind keine 70-kg-Ratten. Wir leben in anderen Umgebungen als Labortiere, leben länger als diese und haben einen anderen Stoffwechsel. Als Beispiele nennt er den LD50-Test, die Giftmenge, die 50 % der Versuchstiere tötet, und einen Hautreizungstest, die nur sehr schlecht in ihren Ergebnissen bei Menschen und z. B. Ratten als gängigen „Modellen“ übereinstimmen. Professor Hartung fragt somit zu recht: Wie aussagekräftig und »brauchbar« sind diese sogenannten »Tiermodelle«?

Da zudem alle möglichen Effekte geprüft werden sollen, wird die Testplanung „konservativ“ durchgeführt, also hohe und höchste Dosierungen jenseits der wirklich bei Vergiftungen vorkommenden eingesetzt, um tatsächlich Wirkungen sehen zu können. Die Ergebnisse stimmen daher oft nicht mit denen überein, die in der Wirklichkeit am häufigsten zu erwarten sind. Zudem werden viele verschiedene Giftwirkungen gleichzeitig untersucht. Dieses führt leicht zu falschen Zuordnungen von Ursache und Wirkung. Und es stellt sich natürlich auch die Frage nach wirklich gesundheitsgefährdenden Effekten, nicht nur Gewebsreizung und Zerstörung, die gemessen werden.

Ein allgemeines, aber für die Aussage jedes Testes problematisches Phänomen ist die Tatsache, das Testergebnisse nicht nur Wirkungen erfassen, sondern auch nicht vorhandene Wirkungen als vorhanden anzeigen und echte Effekte übersehen. Nimmt man als Rechenbeispiel, wie Prof. Hartung dies im Artikel tut, nur die Fortpflanzungs- und Embryonenschädigung, die bei 5.500 Altchemikalien durchgeführt werden soll, liegt die Trefferquote nur bei 60%, im Gegensatz zu 40 % fälschlicherweise als giftig eingestuften Substanzen. 83 der 138 bekannt giftigen Substanzen werden so gefunden, aber 2.145 ungiftige Substanzen irrtümlich zu Gift erklärt. Bei der herkömmlichen Vorgehensweise wird nun in einer weiteren Tierart getestet. Von den 3.272 Chemikalien, die im ersten Test negativ waren, werden nun weitere 1.309 zum Gift erklärt. Gleichzeitig werden nur 33 von 55 giftigen Substanzen, die im ersten Test nicht erkannt wurden, erfasst. Insgesamt werden somit 116 von 138 echten Giften erkannt, und 3.454 ungiftige Substanzen zu Giften erklärt - ein eher zweifelhaftes Verhältnis.

Eine einfache Änderung bei der Testung von Substanzen würde laut Hartung zwei Ansätze kombinieren:

  • Roboterautomatisierte Vielfachtests (Screening) würden die möglichen Gifte zuverlässiger identifizieren, was schon aus Kostengründen (sic!) in vitro, also mit tierversuchsfreien Verfahren, geschieht;
  • Bestätigung der gescreenten Substanzen in für sie geeigneten In-vitro-Tests

Die Testung von potentiellen Arzneimitteln ist noch problematischer als die von Chemikalien. Bei den Medikamentenprüfungen fällt ein großer Anteil der Stoffe (8-30%) allein wegen Sicherheitsproblemen bei der Anwendung am Menschen durch – obwohl sie in den Tierversuchen unauffällig waren. Hinzu kommen noch die Substanzen, die in der Wirkung versagen oder bei denen sich erst nach der Zulassung die unerwünschten Seiten zeigen, wie z. B. beim Rheumamittel Vioxx. Darüber hinaus können neue Medikamente aus Teilen menschlicher Zellen (sogenannte Biologicals) nicht wie chemische Stoffe im Tierversuch getestet werden, denn ihre Wirkung tritt ausschließlich beim Menschen ein, oder sie werden von tierischen Immunsystemen zerstört. Diese Medikamente machen mittlerweile ca. 50 % der neu zugelassenen Substanzen aus. Der Druck auf die Toxikologie, dafür auf humanen Zellen basierende Modelle zur Giftigkeitsprüfung zu entwickeln, wird damit enorm.

In der Medizin müssen Diagnose und Therapie objektiv beurteilbar sein, um für den einzelnen Patienten optimale Entscheidungen zu treffen. Diese sogenannte evidenzbasierte Medizin (EBM) beurteilt den Wert einer Behandlung systematisch nach den Behandlungsergebnissen und –erfolgen. Damit ist sie in eine Vorreiter- und Lenkungsrolle geschlüpft. Bereits 5.000 Leitlinien zu häufigen Behandlungsfeldern liegen vor. Toxikologe Hartung legt zu Recht nahe, diesen EBM-Ansatz in die Toxikologie zu übertragen.

Die Schwierigkeiten der bisherigen Toxikologie macht der Experte an einem Fleckentferner-Wirkstoff anschaulich. Sechs Studien stuften ihn als nicht krebserregend ein, 10 als krebserregend in Tieren, wahrscheinlich aber nicht in Menschen, 9 schätzten ihn als begründetermaßen krebsverdächtigen Stoff für Menschen ein ohne gesellschaftlich-gesundheitswissenschaftliche Belege und 4 kamen zum Schluss, dass es für die krebserregende Wirkung rationale Begründungen und gesundheitswissenschaftliche Belege gibt. Ein Durcheinander - und gleichzeitig Beleg für die Reformbedürftigkeit.

Professor Hartung fordert daher eine vollkommen neue Strategie auf Basis der weiterentwickelten Zellkulturen, ganz besonders der dreidimensionalen Vielfach-Zellkulturen, die Organe in Struktur und Funktion nachahmen. Stand bisher nur Gewebe aus Operationen zur Verfügung, können Stammzelltechnologie und Computersimulationen (sog. in-silico-Technik) die Auswahl bereichern. Dahinter steht ein Strategiewechsel: Charakterisierung von Wirkstoffen durch die Aufklärung und Bewertung von Merkmalsmustern statt einzelner Merkmale.

Internationale Unternehmen, gerade im Bereich Chemie und Pharma, halten an überlieferten Tierversuchen fest, bis der letzte wichtige Markt neue Verfahren einführt. Das Hauptproblem, legt Professor Hartung dar, ist hier die wechselseitige Verflechtung von wissenschaftlichen, politischen und behördlichen Meinungsführer. Diese erzeugt politische und gesetzliche Kompromisse, auch im Sinne von Absicherung der Verantwortung, zugunsten jahrzehntelang durchgeführter »etablierter« Tierversuche. Dieses System wird dadurch besonders gestützt, dass es bequem für die Konzerne ist. Eine berechenbares Spektrum an Tests, dass für planbare Anforderungen an Zeit und Kosten sorgt, wird abgearbeitet. Damit ist die Industrie alle Verantwortung los. Daher sind an diesem Punkt die Gesetzgeber in einer Schlüsselposition.

Die US-Umweltschutz-Behörde EPA hat bereits zusammen mit anderen US-Behörden durch Einrichtung des ToxCast-Programms diesen Richtungswechsel in der Giftprüfung eingeleitet. In Europa hat neben der Diskussion um REACH, das Tierversuchsverbot für Kosmetika die Debatte angeheizt.

Was in Zukunft an Neuerungen kommt, so Hartung, sei ein rein wissenschaftlicher Prozess. Ohne den politischen Willen wird es aber zu keiner Umsetzung in die Praxis kommen, auch wegen der dafür nötigen öffentlichen Förderung. Die größte Herausforderung bleibt aber die Erarbeitung eines neuen verwaltungstechnischen regulatorischen Systems. Ein weiterer wichtiger Antrieb sind die Aufwendungen von 600 Millionen Euro jährlich allein in Europa nur für toxikologische Tests. Zusammen mit der neuen Strategie ermöglichen sie nicht nur qualitativ höherwertigere Aussagen, retten Menschenleben, fördern kleine und mittlere, innovative Unternehmen, vor allem ersparen sie vielen Millionen von Tieren großes Leid und einen qualvollen Tod.

Von entscheidender Wichtigkeit wird aber die Bereitschaft zum Systemwechsel sein, für den Professor Hartung plädiert: Dabei darf das neue nicht als Flicken für die Lücken und Unzulänglichkeiten des alten, tierversuchsbasierten Giftigkeitsprüfungssystems herhalten.

Quelle

Thomas Hartung: Toxicology for the twenty-first century. Nature, Vol. 460, 9 July 2009, 208- 212