Mit tierversuchsfreien Methoden zu einer effizienteren Bewertung der Chemikaliensicherheit
In der Europäischen Union (EU) dient die Verordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH) dazu, Menschen und Umwelt vor möglichen negativen Einflüssen von Industriechemikalien zu schützen. Die Regulation ist dabei umfangreich und hat sich seit der 1960er Jahren stetig weiterentwickelt, wodurch sie zunehmend komplex und in Teilen ineffizient wurde. So dauert eine durchschnittliche Klassifizierung von Chemikalien unter REACH über 19 Jahre. Diese lange Dauer bedingt auch eine erhebliche Anzahl von Chemikalien, deren Sicherheit bis heute nicht bewertet wurde.
Chemicals 2.0: Umgestaltung der Chemikalienregulation
In ihrem Beitrag beschreiben Berggren und Worth als Mitglieder der Gemeinsamen Forschungsstelle (Joint Research Centre, JRC) der Europäischen Kommission, wie die EU-Chemikalienregulierung umgestaltet werden kann, um bei gleichbleibend hoher oder sogar höherer Sicherheit den Prozess effizienter zu gestalten. Eine zentrale Rolle sollen dabei nach Ansicht der Autoren New Approach Methodologies (NAMs) spielen. Dabei handelt es sich um sogenannte alternative Methoden zu herkömmlichen tierversuchsbasierten Toxizitätstestungen, die beispielsweise auf In-vitro-Methoden und Computermodellen beruhen können. Die Methoden beruhen dabei darauf, dass mechanistische Erkenntnisse über die Wirkung der zu testenden Chemikalien gewonnen werden, ohne dass dafür Tiere eingesetzt werden müssen.
Die Rolle von NAMs in Chemicals 2.0
Durch Nutzung der NAMs erwarten die Autoren eine effizientere und effektivere Bewertung der Chemikaliensicherheit, bei der zudem das von der EU gesetzte Ziel, Tierversuche durch tierversuchsfreie Methoden zu ersetzen, berücksichtigt wird. So hat die Europäische Kommission sich bereits 2016 dazu verpflichtet, eine Roadmap zu entwickeln, die in der Chemikalienbewertung zunehmend auf NAMs bauen wird mit dem Ziel, Tierversuche in diesem Bereich schließlich vollständig durch tierversuchsfreie Verfahren zu ersetzen.
Während die heutige Chemikalienbewertung überwiegend auf tierversuchsbasierten „Endpunkten“ beruht, also etwa der Untersuchung der Konzentration einer Chemikalie, die eine bestimmte Anzahl der eingesetzten Tiere tötet, schlagen die Autoren ein neues Bewertungssystem vor, bei dem der Toxizität zugrundeliegenden Eigenschaften der zu testenden Chemikalien mit Hilfe von NAMs untersucht werden. NAMs sollen insbesondere zur Klassifizierung der Toxikodynamik, also der Wirkung der Substanz im Körper, und der Toxikokinetik, also der Verarbeitung des Stoffes im Körper, herangezogen werden. Zur Bewertung der Toxizität von Chemikalien – welche in verschiedenen Zielorganen erfolgen und auf verschiedenen Mechanismen beruhen kann – sollten mehrere NAMs kombiniert werden.
Bereits heute nutzen viele Chemikalienhersteller NAMs bei der internen Bewertung von Chemikalien. Probleme, die dem verstärkten Einsatz von NAMs unter REACH im Wege stehen sind vor allem die langen Validierungsdauern – hier dauert es bis zu 10 Jahre, ehe NAMs validiert und regulatorisch akzeptiert sind – sowie das Vorurteil, dass NAMs weniger sicher seien als Tierversuche. So werden NAMs derzeit eher in den frühen Phasen der Chemikalientestung eingesetzt und im Anschluss daran noch immer Tierversuche durchgeführt. Um eine schnellere Validierung und Akzeptanz von NAMs zu ermöglichen, schlagen die Autoren vor, die dafür nötigen Kriterien weniger rigide und mehr am jeweiligen Zweck der NAMs ausgerichtet zu gestalten.
Um dem Ziel einer effizienteren und tierversuchsfreien Chemikalienbewertung näher zu kommen, schlagen die Autoren vor, das neue NAMs-basierte Bewertungssystem graduell einzuführen und zunächst parallel zu dem traditionellen System zu verwenden. Dadurch kann bereits vorhandenes Wissen genutzt und Vertrauen in das neue Bewertungssystem aufgebaut werden, welches nötigenfalls in diesem Übergangszeitraum weiter verbessert und angepasst werden kann. So soll der Einsatz von Tieren in der Chemikalientestung zunächst schrittweise reduziert und schließlich vollständig eingestellt werden.
Zusammenfassung
05.06.2024
Dr. rer. nat. Johanna Walter
Quelle
Berggren E., Worth A.P. Towards a future regulatory framework for chemicals in the European Union - Chemicals 2.0. Regulatory Toxicololgy and Pharmacology 2023; 142:105431