Bildgebung als tierversuchsfreie Hirnforschungsmethode
4. August 2015
Im Rahmen eines Workshops gingen Wissenschaftler aus Großbritannien der Frage nach, ob Versuche mit freiwilligen Probanden das Potenzial haben, die bisher üblichen Hirnversuche vor allem an Mäusen, Ratten und Affen teilweise oder vollständig zu verdrängen. Dazu beleuchten sie zahlreiche Studien zur Hirnforschung, insbesondere mit bildgebenden Verfahren wie z. B. MRT, EEG, TMS oder PET. Dabei erläutern die Autoren, welchen Fragestellungen in der Hirnforschung an Tieren nachgegangen wird und welche Antworten diese liefern sowie die Vorteile der ethischen Forschungsmöglichkeiten am Menschen.
Hirn und Nervensystem werden u.a. erforscht, indem bestimmte Hirnareale von Tieren mittels Injektion eines Giftstoffes zerstört werden. Man führt vorher und nachher verschiedene Tests durch, um zu ermitteln, welche Funktionen diese Hirnareale innehaben bzw. -hatten. Dabei wird, so die Autoren, die Aussagekraft begrenzt durch anatomische und funktionelle Unterschiede zwischen Tier und Mensch, wofür einige Beispiele gegeben werden.
So wurde durch Versuche mit Affen beispielsweise eine spezielle Hirnregion identifiziert, die für das Arbeitsgedächtnis (d. h. die vorübergehende Speicherung von Informationen) zuständig ist. Durch Studien mit Menschen konnte gezeigt werden, dass ein solches Areal zwar auch im menschlichen Hirn existiert, jedoch liegt sie hier weiter oben und weiter hinten als bei Affen. Da man sich bis dahin auf die Ergebnisse der Affenstudien stützte, wurde das Hirnareal in früheren Studien am menschlichen Hirn nicht entdeckt.
Bei Studien am bzw. mit Menschen ergeben sich ethische Fragen und Bedenken, die von den meisten Wissenschaftlern bei Tierversuchen als nicht problematisch angesehen werden. Jedoch wird, im Gegensatz zu den Versuchstieren, kein Mensch künstlich krank gemacht, einer Gefahr ausgesetzt oder zu einem Experiment gezwungen. Bildgebende Verfahren wie Magnet- oder Elektroenzephalographie (MEG bzw. EEG) sind nicht-invasiv, werden teilweise schon seit Jahrzehnten angewandt und (Langzeit-)nebenwirkungen sind bisher nicht beobachtet worden.
Transkranielle Magnetstimulation (TMS)
Ein möglicher Ansatz, um künftige Studien zum Thema Nervensystem zu verbessern, ist die Transkranielle Magnetstimulation (TMS). Dabei werden durch ein Magnetfeld bestimmte Hirnbereiche vorübergehend aktiviert oder gehemmt. Die so ausgelösten „Störungen“ sind extrem kurz und nur vorübergehend, während die Zerstörung der Hirnbereiche am Tier irreversibel ist. Außerdem kann mit der TMS auch der zeitliche Verlauf einer Funktionsstörung beobachtet werden. In Humanstudien konnten mit Hilfe der TMS die Wege von den Arealen in der Hirnrinde zum Kehlkopf bzw. zur Speiseröhre aufgezeigt werden. Dabei zeigte sich, dass die Schluck-Signalwege der einzelnen Hirnhälften interagieren und dass deren Erregbarkeit sowohl im Hirnstamm als auch in der Hirnrinde durch sensorische Reize reguliert wird. Solche Erkenntnisse sind zum Beispiel von Bedeutung für Demenz- oder Schlaganfallpatienten, die häufig unter Schluckstörungen leiden. Eine weitere Studie mit gesunden Probanden ergab, dass die Stimulation des Rachen die Erregbarkeitsschwelle des „Schluckareals“ im Hirn herabsetzt und somit die Heilung von Schluckstörungen nach einem Schlaganfall unterstützen könnte.
Positronen-Emissionstomographie (PET)
Weitere Möglichkeiten sind die Erhebung von Daten von Patienten mit bereits bestehenden Funktionsstörungen in bestimmten Hirnarealen (z. B. durch einen Schlaganfall oder ein Trauma) oder auch sog. PET-Untersuchungen (Positronen-Emissions-Tomographie) zur Untersuchung der Verteilung von Botenstoffen während der Ausübung bestimmter Tätigkeiten.
Gewebeproben
Auch an Hirngewebe, welches bei Obduktionen oder Operationen entnommen wird, kann zur Aufklärung beitragen. Bei Operationen werden oft große Gewebestücke entfernt (beispielsweise bei Tumor-Operationen); davon wird jedoch nur ein kleiner Teil benötigt, um z. B. in der Pathologie eine Diagnose zu stellen. Der Rest bleibt ungenutzt. Doch würde sich das Material noch für die Forschung eignen, z. B. um Tumorzellen zu züchten und daran neue Medikamente zu testen. Auch bei Obduktionen, die wichtig sind, um den Tod eines Menschen adäquat aufzuklären, können kleine Gewebeproben für weitere Untersuchungen entnommen werden, eine vorherige Einwilligung des Patienten bzw. der Angehörigen vorausgesetzt. 1998 konnten Forscher zum Beispiel erstmals Nervenzellverbindungen an Hirngewebe verfolgen, und das bis zu acht Stunden nach dem Tod des Patienten. Mit den derzeit existierenden bildgebenden Verfahren ist es eher unwahrscheinlich, einzelne Nervenzellen zu erreichen bzw. zu beurteilen, doch dies ist wahrscheinlich auch nicht notwendig, denn viel wichtiger ist das Zusammenspiel mehrerer Nervenzellen und deren räumliche Anordnung. Dies kann z. B. an isoliertem Hirngewebe studiert werden. Die Verfügbarkeit von bei Operationen oder Obduktionen entnommenem Hirngewebe ist derzeit noch begrenzt, doch einige Patienten geben ihr Einverständnis zur Nutzung des Hirngewebes für die Forschung, zum Beispiel, um bildgebende Verfahren zu verbessern oder zu validieren.
Einzelphotonen-Emissionscomputertomographie (SPECT)
Bildgebende Verfahren erlauben bei Patienten mit Hirntumoren, Multipler Sklerose, Schlaganfall, Demenz usw. die Untersuchung des zeitlichen Verlaufs, also Entstehen und Fortschreiten der Erkrankung und Ansprechen auf die Therapie. Hier stoßen die traditionellen „Tiermodelle“ an ihre Grenzen. Am Patienten können aber speziell auf ihn zugeschnittene und nützliche Untersuchungen durchgeführt werden. Jeder Patient reagiert anders auf eine Therapie oder eine Erkrankung, während „Tiermodelle“ standardisiert sind und die reale Situation eines kranken Menschen nie vollständig widerspiegeln können. Mit Hilfe der sog. SPECT-Untersuchung (Einzelphotonen-Emissionscomputertomographie) kann die Verteilung und Funktion verschiedener Rezeptoren im Hirn untersucht werden. So erhalten beispielsweise Patienten, die unter einer Depression leiden, eine Substanz, die an Dopaminrezeptoren im Hirn bindet. Bisher ging man davon aus, dass bei Depression die Anzahl dieser Rezeptoren in den Stammganglien vermindert ist. Eine Studie mit Patienten aber konnte das Gegenteil zeigen. Aus solchen Erkenntnissen können neue Therapieansätze für eine Erkrankung entstehen.
Falsches Medikamentenprofil durch Tierversuche
Studien mit Freiwilligen oder Patienten bei der Entwicklung neuer Medikamente können Zeit und Kosten sparen. Mehr Investition in die Entwicklung bildgebender Verfahren ist hier von entscheidender Bedeutung. Denn durch Tierversuche entsteht meist ein falsches Medikamentenprofil. Medikamente, die in Tierversuchen als wirksam und sicher eingestuft werden, versagen oft am Patienten oder führen sogar zu unvorhergesehenen Nebenwirkungen. Ein sog. Enkephalinase-Hemmer z. B. wurde durch Versuche mit Nagern als besonders effektives Schmerzmittel eingestuft. Beim Menschen zeigte er jedoch keine schmerzlindernden Wirkungen und zwar aufgrund der zu schwachen Aufnahme ins Hirn. Dies wurde allerdings erst entdeckt nachdem bereits ca. 28 Millionen Euro investiert worden waren. Eine PET-Studie mit Freiwilligen hätte schon frühzeitig gezeigt, ob das Medikament die Blut-Hirn-Schranke passieren kann oder nicht. Weitere Studien hätten die schmerzlindernde Wirkung überprüfen können. Dies hätte Zeit und somit auch Kosten gespart, abgesehen von unzähligen Tierleben. Ein weiterer Fall ist der Appetitzügler Dexfenfluramin. Im Tierversuch wurden bei hohen Medikamentenspiegeln irreversible neurochemische Veränderungen beobachtet. Eine Studie mit der sog. Magnetresonanzspektroskopie (MRS) konnte zeigen, dass diese Spiegel im menschlichen Hirn nicht erreicht werden und somit keine Gefahr besteht. Dies zeigt, dass auch vielversprechende Medikamente keine Marktzulassung erhalten könnten, weil durch ungeeignete Forschungsmethoden falsche Ergebnisse erzielt werden.
Patienten- bzw. Freiwilligenstudien
Patienten- bzw. Freiwilligenstudien erbrachten neue Erkenntnisse zu Netzwerken und Arealen im Hirn und deren Bedeutung. Um die Funktion einzelner Hirnbereiche zu erforschen ist es notwendig, den Probanden bestimmte Aufgaben ausführen zu lassen. Menschen lassen sich leichter „anlernen“ als Tiere, während es Monate dauern kann, beispielsweise einen Affen zu trainieren. Zudem bieten Menschen den bedeutsamen Vorteil der beidseitigen Kommunikation zwischen Untersucher und Untersuchtem. Menschen können gefragt werden, ob, wo und wie stark sie derzeit Schmerzen empfinden; bei Tieren kann dies nur gemutmaßt werden. Bis zur Einführung bildgebender Verfahren in die Forschung am und mit Menschen war es völlig unklar, ob und wenn ja, welche Bereiche der Hirnrinde überhaupt an der Wahrnehmung von Schmerzen beteiligt sind. PET-Studien am Menschen konnten diese Bereiche identifizieren. Während Tierversuche das Wissen um die Schmerzwahrnehmung begrenzt haben, konnte mittels Studien am Menschen dieses Wissen erweitert werden. Weiterhin können mit Patienten und/oder Freiwilligen Langzeitstudien über viele Jahre durchgeführt werden; bei Tierversuchen ist dies aus finanziellen, ethischen und auch biologischen Gründen (geringere Lebenserwartung der meisten Tiere) nicht möglich.
Investition in Humanstudien
Eines der größten Hindernisse der Humanstudien sind die Forscher selbst, denen es schwer fällt, neue wissenschaftliche Methoden zu akzeptieren und alte Muster und Ansichten abzulegen. Oftmals werden Erkenntnisse aus Studien am Menschen im Tierversuch überprüft, einfach weil dies schon immer so war. Doch im Zuge des technologischen Fortschrittes erscheinen Tierversuche immer weniger angemessen und geeignet. Dabei gibt es große internationale Unterschiede: während in Frankreich Freiwilligenstudien stark begrenzt sind und in Deutschland weiterhin Affenversuche dominieren, hat in Großbritannien mittlerweile ein Paradigmenwechsel stattgefunden und Erkenntnisse aus bildgebenden Verfahren werden, insbesondere von jungen Wissenschaftlern, anerkannt.
Zwar erscheinen die Investitionen, die notwendig sind, um bildgebende Verfahren weiterzuentwickeln und in der Forschung einzusetzen, zunächst sehr hoch. Doch wenn eine solche Technik erst einmal etabliert ist, ist es möglich, verschiedenste Studien am Menschen relativ kostengünstig durchzuführen. Bei den Abwägungen der Investoren sollten außerdem alle Kosten, die Tierversuche verursachen, berücksichtigt werden, nicht nur die bloße Anschaffung eines „Versuchstiers“. Bedacht werden sollten auch die Ausgaben für Unterbringung und Versorgung der Tiere sowie die Kosten für Tierpfleger, Räumlichkeiten, Sicherheitsmaßnahmen und Infrastruktur. Es erscheint vielen Geldgebern als Risiko in neue Techniken zu investieren, möglicherweise weil die Einschränkungen der Humanstudien überbewertet und das Potenzial neuer Techniken unterschätzt werden. Auch eine Verbesserung der Karriereaussichten für Wissenschaftler, die an klinischer Forschung interessiert sind, wäre wichtig, um Humanstudien voranzutreiben. Denn so lang sich niemand um die Weiterentwicklung und Verbesserung neuer Techniken bemüht, kann auch kein Fortschritt stattfinden und neue Erkenntnisse werden noch lange auf sich warten lassen.
Quelle
Langley G., Harding G., Hawkins P. et al.: Volunteer Studies Replacing Animal Experiments in Brain Research; ATLA 2000 (28), 315-331